Stellungnahme zu dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für ein Gesetz zur Ausgestaltung der Inklusiven Kinder- und Jugendhilfe
Der Bund Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen e.V. (BDVR), in dem 80 Prozent der etwa 3000 aktiven Verwaltungsrichterinnen und Verwaltungsrichter organisiert sind, bedankt sich für die Gelegenheit, zu dem Referentenentwurf Stellung zu nehmen. Ob der Kürze der hierfür eingeräumten Frist stellt der Verband Art. 3 des Entwurfs in den Mittelpunkt seiner Ausführungen.
Gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 6b SGG-E sollen die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zukünftig auch über öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe entscheiden, soweit sie Leistungen der Eingliederungshilfe betreffen. Die Regelung hätte die Verlagerung der Rechtswegzuständigkeit für eingliederungshilferechtliche Streitigkeiten betreffend Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit (drohender) seelischer Behinderung von der Verwaltungsgerichtsbarkeit zur Sozialgerichtsbarkeit zur Folge. Nach der Begründung des Entwurfs (S. 42) soll der Rechtsweg an die Sozialgerichte darüber hinaus auch für den Fall eröffnet werden, dass nicht nur Leistungen der Eingliederungshilfe, sondern auch andere Leistungen Teil der Streitigkeit sind.
Eine solche Verlagerung der Rechtswegzuständigkeit in den vorbeschriebenen Angelegenheiten der Kinder- und Jugendhilfe lehnt der BDVR ab. Wir fordern, die Zuständigkeit für das gesamte Kinder- und Jugendhilferecht bei den Verwaltungsgerichten zu belassen.
Für die beabsichtigte Eröffnung des Rechtswegs zur Sozialgerichtsbarkeit fehlt jegliche sachliche Anknüpfung. Die fehlende Begründung der vorgesehenen Regelung im Referentenentwurf belegt dies. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit hat das Kinder- und Jugendhilferecht seit Jahrzehnten mit ihrer unbestrittenen und anerkannten Expertise geprägt. Das Bestreben, in Zeiten knapper personeller und finanzieller Ressourcen Kernbereiche des Kinder- und Jugendhilferechts aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit ohne Not in eine andere Gerichtsbarkeit zu verlagern, erscheint willkürlich und ist abzulehnen. Im Einzelnen:
1. Gesetzessystematik und Historie
Nach der aktuell geltenden Gesetzeslage wird Eingliederungshilfe für Kinder, Jugendliche und junge Volljährige mit einer (drohenden) seelischen Behinderung nach § 35a SGB VIII durch den Jugendhilfeträger gewährt. Bei Streitigkeiten ist der Weg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet. Besteht bei dem jungen Menschen dagegen eine körperliche oder geistige Behinderung oder ist er von einer solchen bedroht, ist vorrangig der Träger der Sozialhilfe bzw. der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX zur Hilfegewährung berufen. § 51 Abs. 1 Nr. 6a SGG normiert für derartige Streitigkeiten, für die originär nach § 40 VwGO an sich ebenfalls der Verwaltungsrechtsweg eröffnet wäre, eine abdrängende Sonderzuweisung zu den Sozialgerichten.
Durch das neue KJSG soll das Leistungssystem des SGB VIII dahingehend umgestaltet werden, dass eine individuelle, ganzheitliche Förderung aller Kinder und Jugendlichen ermöglicht wird. Der Entwicklungsdynamik und damit dem Spezifikum der Lebensphase „Kindheit und Jugend“ von jungen Menschen mit Behinderungen soll dadurch besser Rechnung getragen werden. Die bisher in § 10 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII vorgesehene Differenzierung der Zuständigkeit nach der Art der Behinderung für Leistungen der Eingliederungshilfe zwischen der Kinder- und Jugendhilfe nach dem SGB VIII und der Eingliederungshilfe nach dem SGB IX wird aufgegeben. Ab dem 1. Januar 2028 soll die Kinder- und Jugendhilfe für Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen, unabhängig von der Art ihrer Behinderung, zuständig sein.
Durch die Vereinheitlichung der Rechtsgrundlage im SGB VIII und die Verlagerung der Zuständigkeit auf den Jugendhilfeträger für Eingliederungshilfen für junge Menschen unabhängig von der Art der (drohenden) Behinderung würden für Streitfälle in diesem Bereich nach den bisherigen Regelungen ausschließlich die Verwaltungsgerichte zuständig sein. Es gibt keine überzeugenden Gründe, diese allgemeine Rechtswegzuständigkeit der Verwaltungsgerichte für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten in Frage zu stellen.
Das steuerfinanzierte Sozialleistungsrecht stellt eine typische Materie der allgemeinen Verwaltung und damit der Verwaltungsgerichtsbarkeit dar. Sie hat strukturell mit den beitragsfinanzierten Leistungen der Sozialversicherung, die die typische Materie der Sozialgerichtsbarkeit darstellen, nichts zu tun. Ein sachlicher Grund, diese Materie den Sozialgerichten dennoch zuzuweisen, besteht nicht. Vielmehr würde die Verlagerung von Streitigkeiten über die Gewährung von Eingliederungshilfe und weiterer Leistungen zu einem erneuten und vertieften Systembruch sowie einer nicht gerechtfertigten Aushöhlung der sachlichen Zuständigkeiten in der Verwaltungsgerichtsbarkeit führen.
2. Besondere Expertise
Verfahren der Eingliederungshilfe sowie die weiteren in diesem Zusammenhang stehenden Leistungen des SGB VIII stellen in weiten Teilen klassische Leistungsverwaltung dar. Dies ist eine vertraute Materie der Verwaltungsgerichtsbarkeit, für die eine langjährig bewährte Rechtstradition und besondere Expertise besteht, die einer Verlagerung der Verfahren auf eine andere Gerichtsbarkeit maßgeblich entgegenstehen. Die Verwaltungsgerichte verfügen über eine über die Jahre gewonnene enorme Fachkenntnis im Kinder- und Jugendhilferecht einschließlich der Eingliederungshilfe und Hilfen zur Erziehung, die bei einer Verlagerung der Materie auf die Sozialgerichtsbarkeit verloren ginge.
Die Verwaltungsgerichtsbarkeit verfügt überdies auch bei einer Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs für das gesamten Kinder- und Jugendhilferecht über die erforderliche Expertise für die zu erwartenden Verfahren auf Eingliederungshilfe für körperlich und geistig behinderte Kinder und Jugendliche. Insbesondere besteht eine langjährig erworbene große Fachkunde im Umgang mit komplexen medizinischen Sachverhalten, die gerade im Bereich der Eingliederungshilfe von Bedeutung sein können. Der Umgang mit komplexen medizinischen Sachverhalten gehört bereits aktuell in zahlreichen Rechtsgebieten, darunter auch dem bisherigen Jugendhilferecht, aber auch dem Ausbildungsförderungs-, dem Berufsrecht, dem Fahrerlaubnis-, dem Asyl- und dem Dienstrecht, zum Arbeitsalltag der Verwaltungsgerichte, sodass bei einer etwaigen Zunahme von Verfahren, die entsprechende Kenntnisse abverlangen, eine zügige und sachgerechte Bearbeitung sichergestellt ist.[1]
Darüber hinaus werden auch aktuell von den Verwaltungsgerichten nicht selten Verfahren entschieden, die eine umfassende Prüfung aller tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte zur Gewährung von Eingliederungshilfe erfordern, so etwa, wenn nach § 14 SGB IX eine (unberechtigte) Weiterleitung von Leistungsanträgen an den Jugendhilfeträger erfolgt ist oder eine Weiterleitung von Anträgen seitens des Jugendhilfeträgers, obgleich eine körperliche oder geistige Behinderung des Antragstellers vorlag, unterlassen wurde. Überdies sind die Verwaltungsgerichte mit Verfahren, die auf die Gewährung von Hilfe zur Erziehung gerichtet sind, betraut, die eng mit denen der Eingliederungshilfe verzahnt sind und die zu einem weitreichenden Überblick über die Vielgestaltigkeit der Hilfebedarfe und Fragestellungen geführt haben, wohingegen der Sozialgerichtsbarkeit Erfahrung und Expertise gerade bei der Ermittlung und Beurteilung erzieherischer Bedarfe fehlen, die jedoch nach dem Referentenentwurf im Rahmen einer gesamtheitlichen Bedarfsermittlung berücksichtigt werden sollen. Vor diesem Hintergrund ist bei den Verwaltungsgerichten eine schnelle Einarbeitung in die durch die Gesetzesänderung hinzukommenden Verfahrensgestaltungen, die überdies bis Ende 2004 von der Verwaltungsgerichtsbarkeit bearbeitet wurden, gewährleistet.
Ebenso spricht für den Verbleib des gesamten Kinder- und Jugendhilferechts bei den Verwaltungsgerichten, dass diese bereits in der Vergangenheit für die Überprüfung der Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfeträger zuständig waren. Die Verwaltungsgerichte sind bereits jetzt mit der Arbeit, den Arbeitsabläufen sowie der Organisationsstruktur der zukünftig umfassend für die Gewährung von Eingliederungshilfe zuständig werdenden Jugendämter vertraut. Auf dieser Basis bleibt eine zielgerichtete und zügige Bearbeitung der bedeutenden Anliegen sichergestellt.
Ferner bietet die Beibehaltung des Rechtswegs zu den Verwaltungsgerichten für die künftig umfassend zuständig werdenden Jugendämter wie auch für die Hilfeempfänger erhebliche Vorteile. Denn nicht zu unterschätzen sind die mit den zukünftig für die Jugendämter eintretenden weitreichenden Änderungen verbundenen Herausforderungen organisatorischer und inhaltlicher Art. Die Möglichkeit, in Streitfällen weiterhin vor den Verwaltungsgerichten aufzutreten, deren Prozessordnung und Organisation ihnen vertraut ist, verschafft den bereits aktuell hochbelasteten Jugendämtern nicht nur die dringend benötigte Entlastung, sondern garantiert ihnen auch Verlässlichkeit in der Rechtsprechung. Eine weitere personelle Bindung zur Einarbeitung in eine fremde Prozessordnung entfiele zu Gunsten der inhaltlichen Bearbeitung der Leistungsanträge. Desgleichen könnten die langjährig aufgebauten fachlichen Beziehungen zwischen Verwaltungsgerichten einerseits und den Jugendämtern und den Rechtsämtern der Jugendhilfeträger weiterhin fruchtbar gemacht werden, auf deren Basis in einer großen Anzahl von Fällen die begehrte Hilfe bewilligt wurde, ohne dass es einer streitigen gerichtlichen Entscheidung bedurft hätte.[2]
Die Sicherung der besonderen Fachkompetenz und die sachliche Ausgewogenheit der Entscheidungen werden im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zudem durch die Besetzung der Spruchkörper mit drei Berufsrichtern sichergestellt. Diese sind nach § 188 Satz 1 VwGO in einer hochspezialisierten Kammer tätig. So sollen nach § 188 Satz 1 VwGO die Sachgebiete in Angelegenheiten der Fürsorge mit Ausnahme der Angelegenheiten der Sozialhilfe und des Asylbewerberleistungsgesetzes, der Jugendhilfe, der Schwerbehindertenfürsorge sowie der Ausbildungsförderung in einer Kammer oder in einem Senat zusammengefasst werden. Unabhängig von der Geltendmachung von Ansprüchen im Eil- oder Hauptsacheverfahren wirken bei den für die Beteiligten im Regelfall bedeutsamen Entscheidungen nach der gesetzlichen Konzeption – anders als im sozialgerichtlichen Verfahren – innerhalb dieser spezialisierten Kammern drei Berufsrichter mit. Bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen kann der Rechtsstreit auf den Einzelrichter übertragen werden, was erforderlichenfalls eine Beschleunigung der Verfahren ermöglicht. Die Besetzung der Kammern mit drei Berufsrichtern sichert unabhängig davon, ob die konkrete Streitentscheidung durch den Einzelrichter oder in Kammerbesetzung getroffen wird, das vorhandene Fachwissen und den kontinuierlichen fachlichen Austausch. Denn auch bei einem personellen Wechsel innerhalb der Kammer bleibt das vorhandene Fachwissen innerhalb des Spruchkörpers enthalten, sodass eine Verzögerung in der Verfahrensbearbeitung oder Rechtsunsicherheiten weitgehend vermieden werden. Zudem können und werden die nicht selten rechtlich und/oder tatsächlich komplexen Sachverhalte innerhalb der dafür spezialisierten Spruchkörper intensiv kollegial beraten und zur Entscheidung vorbereitet. Das bietet Gewähr für eine konstante und qualitativ hochwertige Rechtsprechung.[3]
3. Prozessuale Vorteile
Soweit im Rahmen des Beteiligungsprozesses „Gemeinsam zum Ziel – Wir gestalten die Inklusive Kinder- und Jugendhilfe!“[4] für eine Verlagerung der Rechtswegzuständigkeit auf die Sozialgerichte ein niedrigschwelliger Zugang zu den Sozialgerichten angeführt wurde, sei angemerkt, dass allein Unterschiede in Prozessordnungen offenkundig keine Verlagerung der Rechtswegzuständigkeit für das „inklusive“ Jugendhilferecht in die Sozialgerichtsbarkeit begründen können. Dies gilt insbesondere im Verhältnis der Verwaltungs- und Sozialgerichtsbarkeit, deren Gerichtsordnungen weitreichende Parallelen aufweisen (Gerichtskostenfreiheit in Verfahren des Sozialrechts, kein Anwaltszwang in der ersten Instanz) und in beiden Gerichtsordnungen Vorschriften zu finden sind, die für den jeweiligen Verfahrensbeteiligten Vor- oder Nachteile bringen. Jedenfalls unzutreffend ist die Annahme, die Regelungen im Sozialgerichtsgesetz (SGG) stellten sich per se als bürgerfreundlicher dar als diejenigen in der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Vielmehr bieten auch eine Vielzahl an Verfahrensvorschriften in der VwGO den Beteiligten nicht unerhebliche Vorteile im Gegensatz zu den im SGG verankerten Regelungen.[5]
4. Mögliche Abgrenzungsschwierigkeiten
Auch der Umstand, dass Hilfen ab der Volljährigkeit des Leistungsempfängers – sollten die Voraussetzungen für eine Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII nicht vorliegen – vom Sozialhilfe- oder Rehabilitationsträger gewährt werden und die Entscheidung über solche Streitigkeiten weiterhin der Sozialgerichtsbarkeit obliegt, rechtfertigt jedenfalls keinen Übergang der vorstehenden Materie auf die Sozialgerichte. Denn insoweit verweist bereits die Gesetzesbegründung zum KJSG zutreffend auf die spezifischen Belange von Kindern und Jugendlichen mit einer (drohenden) Behinderung, die eine einheitliche Zuständigkeit für die Hilfegewährung erfordert.[6] Dementsprechend hebt auch der Referentenentwurf hervor, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderungen keine „kleinen Erwachsenen“ mit Behinderungen sind. Da sich die Bedarfe und möglichen Hilfen für Volljährige in der Regel von denen Minderjähriger unterscheiden, ist eine Abgrenzung und damit auch Trennung der Gerichtsbarkeiten bei Streitfragen über die Hilfegewährung ab Eintritt der Volljährigkeit, wie bisher auch, regelmäßig ohne nennenswerte Schwierigkeiten möglich. Danach ist es sachgerecht und ohne weiteres möglich, den gesamten Bereich der Kinder- und Jugendhilfe in die Verantwortung der Verwaltungsgerichtsbarkeit zu geben und den Bereich der Erwachsenen, bei der Sozialgerichtsbarkeit zu belassen, sodass sich diese insoweit spezialisieren und zeitnahen Rechtsschutz gewähren können und um die Berücksichtigung der Besonderheiten bei Kindern und Jugendlichen, insbesondere erzieherischen Fragen entlasten wären. Eine klare und rechtssichere Trennung wäre ohne Weiteres gewährleistet.
Dr. Robert Seegmüller
(Vorsitzender)
Berlin, den 02. Oktober 2024
[1] Vgl. Lange, Quo vadis Jugendhilfe, ZKJ 2023, S. 337 ff.
[2] Vgl. Lange, Quo vadis Jugendhilfe, ZKJ 2023, S. 337 ff.
[3] Vgl. Lange, Quo vadis Jugendhilfe, ZKJ 2023, S. 337 ff.
[4] https://gemeinsam-zum-ziel.org/fileadmin/user_upload/Dateien_Bibliothek/Berichte/Bericht_Beteiligungsprozess.pdf, S. 36.
[5] Vgl. dazu ausführlich: Lange, Quo vadis Jugendhilfe, ZKJ 2023, S. 337 ff
[6] BT-Drs. 19/26107, S. 3, 78.